In den Kreisen der M-72 Fan-Gemeinde gilt das Buch „Mit Hammer und Schlüssel“ von Tom van Endert als Pflichtlektüre und gibt denjenigen die sich neu mit dem Thema russische Gespannmotorräder befassen wollen einen guten Überblick über die Modellvielfalt. Aber auch das gut gemachte Werk von Herrn van Endert gibt leider nur wenige Details über die ersten Produktionsjahre wieder. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, neben der Restaurierung meiner M-72 auch zukünftig die Erforschung und Dokumentation der M-72 Modelle bis 1950 zu betreiben. Ein weiteres Werk, dass Auskunft über die Entstehung der M-72 gibt, ist das Buch „ The complete history of Soviet Motorcycles, Part 1 1924-1945“ von Andrey Myatiyev, mit Bilddokumenten der ersten Vorserienmaschinen aus den Jahren 1940 und 1941 und weiterer interessanter Informationen. Aus dem Jahr 1942 stammt eine Ersatzteilliste, die als pdf.-Version im Internet verfügbar ist und die als Basis für die Teilebeschaffung im Vorfeld einer Restaurierung wertvolle Dienste leistet. Leider fehlen bei dieser Liste die Angaben und Zeichnungen zum Seitenwagen.
Zum Einstieg in das Thema möchte ich die derzeit gängigen Theorien der Entstehung der M-72 wiedergeben.
Bild 1: M-72
Bild 2: BMW R 71
Theorie 1
Im Rahmen des Hitler-Stalin Pakts wurden der Sowjetunion zahlreiche technologische Hilfestellungen geleistet. In diesem Zusammenhang wurden die Konstruktionspläne, der zu diesem Zeitpunkt schon veralteten R 71, die in Deutschland durch die BMW R 75 und die KS-750 von Zündapp ersetzt wurden, nebst Unterstützung bei der Anwendung vor Ort durch Mitarbeiter von BMW, von Deutschland geliefert. Eine Bestätigung dieser Theorie nebst Aussagen über mögliche Lizenzzahlungen wurde allerdings von BMW nie gegeben.
Theorie 2
[… Eine andere, sehr weit verbreitete Geschichte erzählt von mehreren BMW’s, die ihren Weg nach Russland über das damals neutrale Schweden nahmen, regulär eingekauft, um schließlich detailgetreu kopiert zu werden. … ] Zitat aus „Mit Hammer und Schlüssel“ von Tom van Endert.
Ob es noch weiter Theorien gibt oder welche der Theorien dem tatsächlichen Ablauf am nächsten kommt wird möglicherweise die Zeit und weiter Nachforschungen beantworten.
Bild 43: BMW R 71 im Museum in Irbit, möglicherweise die Kopiervorlage??
Um eine Datenbasis für jahreszeitliche Zuordnungen und Modellveränderungen aufzubauen werde ich eine Sammlung von Dokumenten anlegen. Eine Grobunterteilung wird in die Zeit von 1941 – 1945 und in die Zeit von 1946 – 1950 vorgenommen. Hierbei werden Gesamtansichten der Motorräder sowie Detailansichten von unveränderlichen Kennzeichen an Baugruppen und Begleitunterlagen im Vordergrund stehen.
Bild 3: M-72 der ersten Generation im Kriegseinsatz
Der Produktionsbeginn in Moskau (MMZ)
Im September 1940 begannen die vorbereitenden Arbeiten zur Produktion der ersten zwei Exemplare der M-72, die Ende Februar zum Abschluss kamen. Am 16. März 1941 wurden die ersten zwei Prototypen dem zuständigen Ministerium vorgeführt, welches kurz darauf die Serienproduktion freigab. Ab Ende März 1941 lief die M-72 in Moskau (MMZ) vom Band. Die Produktion in Moskau war auf unterschiedliche Unternehmen verteilt. Der Motor wurde im ZIS-Werk (Stalinwerk), die Getriebe bei Moskvitch und die Endantriebe und Seitenwagen in Gorkij gefertigt. Am 21. Oktober 1941 wurde der Befehl gegeben die Produktion von Moskau nach Irbit zu verlegen. Am 17. November 1941 war der Umzug vollzogen und die Produktion begann, zuerst eher provisorisch in Baracken und Zelten am neuen Standort. Die allerersten Fahrzeuge sind heute genau wie das deutsche Vorbild extrem selten und waren abgesehen von den zusätzlichen Rahmenstreben und einem größeren Benzintank zunächst eine sehr getreue Kopie der BMW R 71.
Produktionsstandorte
MMZ: Moskau Motocykletnyi Savod
LMZ: Leningrad Motocykletnyi Savod
KhMZ: Charkow Motocykletnyi Savod
GMZ: Gorkij Motocykletnyi Savod
IMZ: Irbit Motocykletnyi Savod
KMZ: Kiew Motocykletnyi Savod
Produktionszahlen
MMZ: 1941 bis zur Evakuierung : 1.753 Maschinen
LMZ: keine komplette Maschine bis zur Evakuierung nach Gorkij produziert
KhMZ: 233 Maschinen aus Teilen aus LMZ und KhMZ gebaut (möglicherweise auch in Gorkij)
GMZ: 1942 – 1943: 2.694 Maschinen
GMZ: 1944 – 1945: 2.882 Maschinen
IMZ: 1942 – 1943: 3.780 Maschinen
IMZ: 1944 – 1945: 3.993 Maschinen
Die Gesamtproduktion von 1941 bis zum Ende des 2. Weltkriegs betrug 15.335 Fahrzeuge. Alle Seitenwagen wurden bei GMZ produziert. Die Produktion bei GMZ wurde 1949 beendet und die Produktionsanlagen zu KMZ verlegt
1945 Der Fußschalthebel wird durch eine Schaltwippe ersetzt.
1949 Der einfache Nassluftfilter nach dem Vorbild der BMW musste einem Ölbadfilter weichen.
1946 Es wurde die Einscheibenkupplung durch eine Zweischeibenkupplung ersetzt.
1947 Der Kolbenbolzen wird von 18mm auf 21mm verändert.
1948 Die Übersetzung im Endantrieb wurde von 1:389 (9/35) auf 1:4,62 (8/37) herabgesetzt.
1953 Das vordere Schutzblech wurde zur Verbesserung der Geländegängigkeit nach oben versetzt. Insgesamt wurde das vordere Schutzblech 1941,1944,1945 in der Form abgewandelt.
1950 Die Produktion wurde von Gorkij (GMZ) nach Kiew (KMZ) verlegt wo noch bis 1956 Fahrzeuge der Reihe M-72, identisch zu denen aus Irbit (IMZ), gebaut wurden.